Expert:innenrunde: Autofreie Zentren – vernünftig oder radikal?
Am 27. Oktober 2022 fand in Bern eine Expert:innenrunde mit rund 25 Vertreterinnen und Vertretern aus Wirtschaft, Wissenschaft, Behörden und Gesellschaft unter dem Titel «Autofreie Zentren – vernünftig oder radikal?» statt. Das Ziel dieses Austausches war es, das emotionale Thema auf sachlicher Ebene und aus verschiedenen Optiken zu beleuchten und die Basis für konkrete Handlungsempfehlungen bzw. weitere Vertiefungen zu schaffen.
Die Zusammensetzung der Diskussionsteilnehmenden war sehr vielfältig. Dies ermöglichte eine vielseitige und engagierte Diskussion mit differenzierter Betrachtung in den einzelnen Themenblöcken. Nach der Vorstellung eines konkreten Fallbeispiels anhand der «Velostadt» Houten (NL) wurde die Veranstaltung in drei Themenblöcke mit unterschiedlichen Fragestellungen gegliedert – Pro und Contra, Verkehrsplanung und Verkehrslenkung. Die wichtigsten inhaltlichen Inputs aus der Veranstaltung können wie folgt zusammengefasst werden:
Pro und Contra: Welches sind die Vorteile autofreier Zonen in den Zentren und welche Ziele werden dabei angestrebt? Welche Nachteile bringen autofreie Zonen mit sich und was sind die Befürchtungen?
- Vorteile autofreier Zentren zeigen sich auf mehreren Ebenen: Weniger schädliche Emissionen, mehr Lebensqualität, mehr Freiraum für alternative Nutzungen (insbesondere Grünflächen) als Massnahme gegen die Klimaerhitzung, für positive Gesundheitseffekte und mehr Sicherheit im Verkehr.
- Das Gewerbe ist nicht grundsätzlich gegen autofreie oder autoarme Zentren. Diese bieten auch Chancen, insbesondere für Gewerbezweige wie Gastronomie, Tourismus oder Detailhandel.
- Autofreie Zentren führen aber auch dazu, dass im Zentrum eine Konzentration auf den Dienstleistungssektor stattfindet.
- Für Produktionsbetriebe (Lebensmittelverarbeitung wie Bäckereien, Baugewerbe) wird es zunehmend schwierig, ihre Tätigkeit in den Zentren ausüben zu können. Das hat aber auch mit den Emissionen zu tun (Lärm, Geruch, etc.).
- Es besteht das Risiko einer Vielfalts-Verarmung der (Stadt-)Zentren, weil nur noch finanzstarke Dienstleistungen (z.B. Banken, Versicherungen) oder internationale Warenketten in den Zentren präsent sind.
- Für Handelsbetriebe mit Produkten, welche nicht zu Fuss, mit dem öffentlichen Verkehr oder mit dem Velo transportiert werden können (z.B. Möbelgeschäfte) braucht es einen eingeschränkten Zugang für die Kundschaft.
- Die Fokussierung auf das Auto greift zu kurz. Der Verkehr bzw. Zugang zu den Zentren muss gesamtheitlich betrachtet werden.
- Um die Versorgungssicherheit autofreier/autoarmer Zentren zu gewährleisten, ist auch ein Zusammenspiel verschiedener Akteur:innen (Kooperation) erforderlich. Dazu ist der Leidensdruck offenbar noch zu gering.
Verkehrsplanung: Räumliche Verdichtung und autofreie Zonen. Wie müssten (Verkehrs-)flächen in den Zentren verteilt werden? Berücksichtigung Klimawandel: Grünflächen, Durchlüftung etc.
- Eine Fokussierung auf autofreie Zentren greift zu kurz. Das Problem muss nicht nur in den Zentren, sondern flächendeckend gelöst werden. Sonst verdichtet sich der Verkehr in den Agglomerationen.
- Keine Anreize schaffen, um mit dem Auto in die Zentren zu fahren (Einkaufszentren, grosse Parkhäuser).
- Für die Umsetzung autofreier/autoarmer Zentren muss das Mobilitätsbedürfnis der ansässigen Personen befriedigt werden (Wohnen, Arbeit, Gesundheit, Einkaufen, Bildung)
- Die Raumplanung und die Infrastruktur sind massgebliche Faktoren, welche zum Erfolg von autoarmen/autofreien Zentren beitragen.
- Auch die Planung einer «15-Minuten-Stadt» garantiert nicht, dass Bevölkerung und Wirtschaft diese in genügendem Mass beleben: Was ist die kritische Masse, damit es wieder ein lokales Leben/Gewerbe gibt oder dass ein solches erhalten bleibt? Welche Einfluss auf das Konsumverhalten wird der Online-Handel einnehmen?
Verkehrslenkung: Welche Verkehrsverlagerungen sind zu erwarten? Wie können diese durch verkehrslenkende Massnahmen beeinflusst werden? Welche Potenziale bieten sich für Verkehrsdrehscheiben? Welche Potenziale bieten sich bei der Parkplatzbewirtschaftung?
- Das Verkehrsverlagerungspotenzial ist gross in den Kernstädten – es vermindert sich allerdings, mit zunehmendem Zentrumsabstand.
- Verkehrsdrehscheiben sind ein möglicher Ansatz, müssen aber mit flankierenden Massnahmen (z.B. attraktives Angebot für die Bevölkerung) begleitet werden.
- Wichtig: Parkraummanagement – Zielkonflikt der Gemeinden (Einnahmen aus Parkpltzgebühren vs. weniger motorisierter Individualverkehr).
- Zufahrtsbeschränkungen dienen der Verkehrsreduktion, haben jedoch noch weitere Auswirkungen auf die Stadt.
Die Veranstaltung bietet einen guten Ausgangspunkt für weiterer Diskussionen. Mehrere Teilnehmende haben aktiv Interesse an einer weiteren Vertiefung der Thematik angemeldet. Eine Anknüpfung an das Thema im Jahr 2023 wird abgeklärt.
Fotoeindrücke
Anwesend waren: André Botermans (NL-Houten), Regina Witter (Bundesamt für Raumentwicklung ARE), Sven Eggimann (EMPA, Urban Energy Systems), Simon Prenner (Stadtbauamt Aarau), Monika Litscher (Schweizerischer Städtverband SSV), Patrick Rérat (Uni Lausanne), Daniel Baehler (Uni Lausanne, bfm Büro für Mobilität), Alexander Erath (Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW), Christina Schumacher (Fachhochschule Nordwestschweiz FHNW), Michael Güller (Architecture urbanism), Leonhard Sitter (KMU Stadt Bern), Aline Trede (Der Gewerbeverein Bern), Jenny Leuba (Fussverkehr Schweiz), Sabeth Tödtli (Urban Equipe), Tobias Schär (Genossenschaft Veloblitz Zürich), Lea Schmutz (JungVCS), Peter Vollmer (Schweizerische Verkehrs-Stiftung SVS), Anders Gautschi (SVS), Rahel Marti (SVS), Ruedi Blumer (SVS), Paul Schneeberger (SVS), Michel Geelhaar (Federas), Nadja Mühlemann (JungVCS), Daniel Ruchti (SVS)